DER TEIL UND DAS GANZE

Zu einem Zeitpunkt, als im Bereich der Naturwissenschaften und der technischen Mathematik etwas derart Revolutionäres zur Diskussion stand, wie die von Max Planck eingeführte Quantenphysik, die mit bisher unüblichen Parametern wie dem Energie- potenzial von Materie operierte, entstanden im Bereich der visuellen Künste Bestrebungen, das Bild-Ganze nicht mehr als dienalleinige Option der künstlerischen Überlegungen anzuvisieren, sondern das Verhältnis der Teile zum Ganzen zu untersuchen.

In Physik und Bildkunst hatte also mit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gleichzeitig eine Art „Introspektion“ eingesetzt, eine Suche nach den kleinsten Einheiten, nach der Kongruenz vom Ganzen und dessen Teilen. Ob es die konstruktivistischen Strömungen waren, deren Ausgangspunkt die Untersuchung zu Maßverhältnissen, Proportionen und räumlichen Bezugssystemen waren oder der Kubismus, der an der Simultaneität von Ansichten und Ereignissen interessiert war – in den Zeiten der beginnenden Moderne wurde etwas von virulenter Bedeutung, was bisher nicht wahrgenommen worden war: die Sicht auf dienWelt setzt sich aus vielen Unteransichten zusammen, die Dinge bestehen aus unendlichen vielen kleinen, mikroskopisch winzigen Partikelchen und deren Bewegung, das Ganze entwickelt sich aus dem Gefüge seiner Teile und ist dementsprechend in diese dekonstruierbar. „Der Teil und das Ganze“ nannte der Physiker Werner Heisenberg seine Sammlung von Gesprächen im Umkreis der Atomphysik1, in denen er seinen persönlichen Zugang zur Quantentheorie reflektiert; es werden nicht nur Begriffe wie „Gleichzeitigkeit“ oder „Ordnung“torpediert und neu definiert, es werden auch Bezüge zu Veränderungstendenzen in den Künsten anger- issen: mit dem Zitat „Raum und Zeit sind also nicht so unabhängig voneinander, wie man bisher geglaubt hat“2 schlägt er die Brücke nicht nur zur zeitgenössischen Musik, die er deutlich anspricht, sondern zur Performance- und Medienkunst unserer Tage.

Selten ist das Zusammenwirken von einzelnen Teilen zur Erschaffung eines großen Gemeinsamen so eindringlich und stringent visualisiert worden wie in dem Bild des „Orchesters“. In erster Linie ist es immer das gemeinsame Musizieren,Singen, Auftreten, das zur Herstellung eines simultanen Klangerlebnisses dient, das damit gemeint ist. Unbemerkt bleibt der individuelle Beitrag zu einer gesamtheitlichen Phänomenologie, auch wenn Heisenbergs Theorie der fundamentalen Struktur zugrunde liegt.

Selten ist das Zusammenwirken von einzelnen Teilen zur Erschaffung eines großen Gemeinsamen so eindringlich und stringent visualisiert worden wie in dem Bild des „Orchesters“. In erster Linie ist es immer das gemeinsame Musizieren,Singen, Auftreten, das zur Herstellung eines simultanen Klangerlebnisses dient, das damit gemeint ist. Unbemerkt bleibt der individuelle Beitrag zu einer gesamtheitlichen Phänomenologie, auch wenn Heisenbergs Theorie der fundamentalen Struktur zugrunde liegt.

Katharina Struber untersucht mit ihrer neuen medialen Arbeit genau diese Themen und ihre Schnittstellen: am Beispiel des Radio Symphonie Orchesters legt sie das gemeinsame Musizieren als einen kollektiven Prozess frei, der in unendlich viele Unterprozesse aufgegliedert werden kann. Ihr Mittel istdie Kombination von Videofilm und Standfotografie, durch deren reziproke Verwendung sie mittels Fotografie einem filmischen Ablauf nachspürt und im Verarbeiten des Videomaterials für fotografische Bilder dessen Zeitgebundenheit aufhebt. Sie verschränkt kapitale Kategorien der Künste miteinander, an denen sich Künstler und Theoretiker seit der Renaissance abgearbeitet haben: Hören und Sehen, Raum und Zeit, der Einzelne und das Ganze, Aktivität und Stillhalten, Klang und Stille, Fülle und Kargheit. Das von Katharina Struber medial beobachtete Orchester probt ein Stück von John Cage – legendärer Verweigerer von Musiktradition und Protagonist von Klangsubversion: Quartets I–VIII betitelte er
die Musikstücke, die er anlässlich der Feierlichkeiten zum Bicentennial der USA komponierte. Getreu seinem richtungsweisenden Text „Silence“3, in dem er einen Vortrag über Musik in 4 simultane Kolumnenaufteilte, diese wiederum in je 12 Zeilen mit 48 Einheiten nach einem Maßverhältnis von 7, 6, 14, 14, 7 gliederte, ist auch die hymnische Kompositionüber die Freiheitsrechte der amerikanischen Bürger ein Bekenntnis zu den Prinzipien einer neuen Verknüpfung von Individuum und Kollektiv: „ich habe zwei Parte für einen Pianisten geschrieben. Jeder Part kann allein gespieltwerden oder sie können beide zusammen gespielt werden“; das simultaneMu- sizieren, gegebenenfalls von einem Musiker gleichzeitig an mehrerenInstrumenten oder im Tutti eines Orchesterzusammenspiels, ist damit nachCage immer ein anzus- trebendes, aber fragiles Gleichgewicht. Diese gefähdeteBalance zwischen den Indivi- duen und die spürbare Energie im gemeinsamenHandeln werden in den Fototableaus von Katharina Struber ansichtig. DieFacetten des simultanen Tuns münden einerseits im raumhaltigen Gesambilddes Ganzen; sie sind aber andererseits – wie in den kubistischen Bilder vonBraque oder Picasso – auch als die autonomen Partikuläransichten einer einzigen, umfassenden Komposition zu sehen.

2013 Margit Zuckriegl/Kuratorin MdM Salzburg

Katharina Struber/ Atterseehalle 22. Juli 2017

Im Jahre 2001 hatte Katherina Struber die Gelegenheit nach China zu reisen. Sie hatte ein Stipendium für Cheng Du in der Provinz Sezchuan erhalten. Die Arbeit, die in diesem Zusammenhang entstanden ist, stellt einen wesentlichen Schritt, eine Markierung in der Entwicklung der Künstlerin dar und Sie sehen diese heute zum ersten Mal präsentiert.


Erst dreht sich alles um den Blick, in der Tiefe dann um die Zeit.

Ich möchte Ihnen im Folgenden 2 unterschiedliche Arten des Sehens andeuten. Beide Modalitäten sind für die Arbeit von Katharina Struber bestimmend.


Um der Herausforderung zu begegnen, in einem sehr fremden Land die Möglichkeit eines Arbeitsaufenthaltes zu nutzen, setzte die Künstlerin sich der Isolation dieses Ateliers aus und dokumentierte, akribisch und systematisch jene vier Wände, die sie umgaben, inklusive der Aussicht.
Es entstand, von links nach rechts, von oben nach unten ein filmisches Protokoll.

Dies ist die erste Schicht der Zeit – chronologisch, 1 Monat, Tag für Tag. Aus der Fülle dieses Materials der Vermessung gewinnt die Künstlerin die Einzelbilder, aus denen die großen Fotowände zusammengesetzt werden. Eine Arbeit des wiederholenden, extrahierenden Sehens, eine Form des Erinnerns,denn das Gedächtnis schreibt sich in die neue Materie ein. Dies ist die zweite Schicht der Zeit.


Neben den vielen Stunden, dem exzessiven Gebrauch von Lebenszeit am PC beinhaltet sie auch eine Art der Vergangenheit, die so nie Gegenwart gewesen ist.
Die 4 fotografischen Flächen, welche auf diese Art gewonnen wurden, liegen oder besser hängen, nun vor Ihren Augen, wertes Publikum.
Sie sehen ein umgestülptes chinesisches Zimmer, die Inversion jenes Ateliers.
Nicht der Blick aus dem Fenster, ein häufiges Motiv in der Kunstgeschichte, und nicht das Interieur.
Schlicht das Zimmer, umgedreht.
In der Mitte die Leere.

In seiner Erforschung des Blicks als subjekt-konstituierendes Objekt entwickelte der franz. Psychoanalytiker Jaques Lacan ein bekanntes Diagramm aus zwei ineinander verschränkten Dreiecken. Dem geometrischen Punkt des Auges, der jeweiligen Spitze des Dreiecks, gegenüber, liegt das Feld von dem aus der Blick erwidert wird.
Diese Einsicht kam Lacan auf dem Wasser, als ihn beim Fischen eine Sardinenbüchse angeblinkt, angeblickt hatte.
Vielleicht ist der Attersee angetan, die Konstellation zu verstehen!

Indem die beiden Dreiecke ineinandergeschoben werden, ergibt sich in der Mitte eine Art Schirm, eine Membran – das Bild der Vorstellung.
Das Subjekt entsteht an der Schnittstelle zwischen dem Sehen und dem Angeblickt -werden. Oder umgekehrt, denn anders als das Wort Spiegelstadium suggeriert, handelt es sich nicht um einen statischen Akt der Selbsterkenntnis, sondern vielmehr um einen sehr feinen Rhythmus mit dem der Andere mein Sehen widergibt und schon verändernd beantwortet.
Ein Spiel, das auch die Dinge spielen, wenn sie, wie Benjamin sagt, den Blick aufschlagen.
Etwas, das auch Wände gelegentlich tun.
Sie nun, werte Betrachterinnen und Betrachter, befinden sich ihrerseits an einer bestimmten Stelle eines Dreiecks.
Im Feld des Sehens ist das Subjekt im Tableau, im Bild, schreibt Lacan.
Indem Katherina Struber die Wände, die sie damals in …
gesehen hat, nach außen kehrt, sind Sie es jetzt, die jene Wände ansehen.
In der Mitte ein leeres Feld-
„Das große Bild hat keine Form.“ heißt es in der klassischen Ästhetik Chinas.
Dieser Gegensatz von geometrisch-optischem Sehen und einem insistierendem visuellem Vermögen des Blicks führt uns zu den großen Foto-Tableaux, die hier die zentrale Installation wie eine weitere Ebene der Spiegelung umgeben.
Katherina Struber hat in diesen Fotografien ihr Verfahren zur Herstellung von simultan-perspektivischen Zeitbildern verfeinert. Sie wählt auch hier einen zentralen Standort für ihre Videokamera, meist an geschützter Stelle mit Blick auf eine belebte Situation.
Von dort nimmt sie das geschäftige Treiben, sei es an einem U-Bahn Aufgang oder auf dem Forum Romanum in Rom, in regelmäßigen Intervallen über viele Stunden hinweg auf. Wieder wählt sie aus diesem filmischen Material aus und setzt in aufwendiger Selektion einzelne Sequenzen zu einem Ganzen zusammen. Da die erste filmische Aufzeichnung immer wieder zu denselben Stellen zurückgekehrt, dort dokumentierend was sich bewegt und verändert hat, kann die Künstlerin daraus einzelne Narrative verdichten. Es entstehen Bilder von kondensierter Zeit. An anderen Stellen scheint etwas zu fehlen. Eine Geste ist abgerissen, Körper werden in ihrer Bewegung sichtbar, doch das Wahrnehmungskontinuum wird brüchig.
Schon Leibniz setzte die Anzahl unserer Wahrnehmungen gegen Unendlich, zusammengesetzt aus mikroskopisch kleinen Wahrnehmungspartikeln, anschwellend, abschwellend. Unterhalb des bewussten Sehens liegend verbinden sie so Subjekte und Objekte.
Jedes Bewusstsein ist eine Schwelle.
Sichtbar, oder vorstellbar wird dies auch in den seltsamen Erscheinungen in den Fotografien von Katherina Struber.
So tauchen etwa Geistwesen aus früheren Zeit-Schichten auf, Bewegungen und Gesichter scheinen ihre eigene Realität außerhalb der Wahrnehmung des Zeugen zu haben, sichtbar wohl aber für die Kamera.
Die optisch/visuellen Daten erfahren eine extrem hohe Verdichtung.
So geschieht es, dass räumliche Koordinaten, die Architektur oder die Wolken und Landschaften sehr flach wirken. Zugleich entsteht ein Flirren, das beinahe die Auflösung des Raumes einleitet. Während die Räume flach wie abstrakte Malerei werden, springen einzelne Sequenzen und Szenen ins Auge, sie sind hervorgehoben wie durch ein Brennglas. Es ist ein haptischer Blick, der angezogen wird von Qualitäten und Intensitäten.
Deleuze/Guattari unterscheiden diesbezüglich zwischen glatten und gekerbten Räumen, die allerdings immer wieder auseinander hervorgehen, wie auch abgegrenzt nebeneinander bestehen. Während der gekerbte Raum der Vermessung den Staat hervorbringt, lässt sich der glatte Raum dem Nomadischen zuordnen. Hier sind intensive Kräfte wirksam, durch sie wird die Materie geformt. Diese Unterscheidung zwischen geordnetem, geometrisch erfasstem Raum und der Wirksamkeit von Qualitäten entspricht durchaus der gewöhnlichen Erfahrung. Schwer-und Fliehkräfte, Geschwindigkeiten und Geräusche, aber auch ein Duft, die Farbe einer Blüte bestimmen in weiterhin, jenseits jeder nomadischen Lebensform, unsere Weltwahrnehmung.
Daraus folgt noch eine Anmerkung zum Schluss:
Die Arbeiten von Katherina Struber wurden häufig mit dem Begriff der „Multitude“ in Verbindung gebracht. Dieser politische Begriff meint Vielheit, ein Wir der Vielen, die singulär und doch verbunden sind. Gekerbte und glatte Räume entsprechen unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen, das Wir der kommunizierenden Einzelnen wird darin eher dem intensiven Raum zugeordnet sein.
Auf den ersten Blick scheint sich der Standpunkt der Kamera von Katherina Struber ein wenig außerhalb des Geschehens zu befinden, ein Ort der Beobachtung und Distanz. Doch immer wieder verbindet sich dieser Blick mit dem der Anderen. Er tritt offensichtlich ein in den Rhythmus von sehen und gesehen werden, von gesehen werden und sehen.
So entstehen jene Bilder, aus denen heraus uns etwas anblickt.

Herzlichen Dank für Ihre Interesse und viel Vergnügen mit der Kunst!

Daniela Hölzl 2017